Matthias Jung


 

FeedWind

Zeitsprung - Gemeinde 2030

 

 

Wir dürfen drüber reden.

Predigt an Karfreitag 2013 (Matthäus 27,33-50)

 

»Wenn ich mit Menschen aus diesen Familien spreche, habe ich das Gefühl, das sei alles gestern erst geschehen.«

Diesen Satz habe ich vor wenigen Tagen gehört. In Saint Cloud, einem Vorort von Paris. Von Agnes von Kirchbach, Pfarrerin der dortigen französisch-reformierten Kirche. Und die Familien, von denen sie spricht, das sind die Nachfahren derer, die vor drei-, vierhundert Jahren verfolgt, vertrieben, ermordet wurden in den Auseinandersetzungen zwischen Katholiken und Protestanten in Frankreich.

Tief eingeprägt hat sich diese Leidenserfahrung ins Gedächtnis dieser Familien und es prägt sie in ihren Einstellungen gegenüber dem französischen Staat, aber auch ihrer religiösen Konfession. Der evangelische Glaube wird selbstbewusst und selbstverständlich weitergegeben von einer Generation zur anderen, bis in unsere Tage.

Karfreitag 2013. In der letzten Woche lief im ZDF der Dreiteiler »Unsere Mütter, unsere Väter«. Manch eine, manch einer von Ihnen hat ihn vielleicht gesehen. Eine vielschichtige Beschreibung des Grauens, des Leidens, der Verstrickung in Schuld und Gewalt.

»Der Krieg bringt das Schlechte in jedem Menschen hervor«, sagt Friedhelm Winter, einer der Hauptpersonen, mehr als einmal. Und in der Tat verschlägt es einem den Atem, wenn man miterlebt, mitfühlt, wie es schrittchenweise immer tiefer in den Abgrund geht. Nachvollziehbar wird das Entsetzen, das Erschrecken über sich selbst, das Schuldigwerden und doch Nichtanderskönnen, will man überleben.

Vor zwanzig Jahren hätte ich mir diesen Film schon gewünscht, um ins Gespräch zu kommen mit Menschen, vor allem mit Männern, die in Russland und Frankreich oder wo auch immer waren. Viele verstummten, konnten nicht darüber reden, die Erinnerung an das Grauen verschlug ihnen Jahrzehnte danach noch die Sprache. Mehr als einmal erzählten Witwen, Kinder Enkel beim Beerdigungsgespräch: »Mein Mann, mein Vater, mein Opa hat Furchtbares erlebt im Krieg und hat nie drüber gesprochen. Und das war für uns furchtbar – ihn leiden zu sehen an seinen Erlebnissen und kein doch Wort herauszubringen.« Sehe ich diesen Film, dann ahne ich die Abgründe von Schuld und Scham.

Ich habe es aber auch erlebt, dass Männer anfingen zu sprechen, und mir als Pfarrer und keinem anderen andeuteten, was da alles gewesen ist. Im Detail bekam es keiner über die Lippen.

In dem Film erlebt Friedhelm Winter vier Jahres dieses Grauen, das Schlechte im Menschen, den Überlebenswillen, für den er buchstäblich über Leichen bereit ist zu gehen. Am Ende geht er freiwillig ins Feuer der sowjetischen Soldaten, kurz vor Kriegsende. Ein Weiterleben nach all diesen Erfahrungen scheint für ihn nicht mehr sinnvoll. Leiden. Furchtbares Leiden über Jahre hinweg. Wenn man das so will, hatte Jesus eigentlich einen barmherzig schnellen Tod.

Karfreitag 2013. Dieser Film zeigt schonungslos auf, dass Leiden viel mit Schuld zu tun hat, aber noch viel mehr mit Verstrickung, mit Angst, mit Hilflosigkeit. Sicher, es gab diejenigen, die sich aufgelehnt haben, doch sie überlebten nicht. Und auch das gehört zur Wahrheit hinzu: auch die anderen, Russen, Partisanen, Franzosen erlebten das Gleiche. Auch wenn dieser Krieg von deutschem Boden ausging, auch auf der anderen Seite wurde das Schlechte im Menschen nach oben gespült.

Auch davon haben wir in Paris gehört, der Widerstand wird glorifiziert, die eigene Verstrickung in Schuld und Gewalt verschwiegen. Zwangsadoptionen waren 1945 an der Tagesordnung. Französischen Frauen, die sich mit deutschen Soldaten eingelassen hatten, wurden vielfach die Haare geschoren und wenn aus diesen Beziehungen Kinder hervorgegangen waren, wurden sie ihren Müttern weggenommen und zur Adoption freigegeben. Und in den letzten Jahren klopfen vermehrt Franzosen, Männer und Frauen an der Tür der Deutschen Evangelischen Christuskirche in der rue Blanche und bitten um ein Gespräch. Erst jetzt haben sie die Wahrheit über ihre Herkunft herausgefunden, z.B. nach dem Tod ihrer – Eltern, in den Unterlagen haben sie es gelesen und nun gehen sie auf Spurensuche nach ihren deutschen Vätern.

Karfreitag 2013. Was der Film im ZDF sehr präzise zeigt, ist die Tatsache, dass persönliche Schuld und allgemeine Verstrickung untrennbar miteinander zusammenhängen. Und das alle, Täter und Opfer gleichzeitig sind. Das ist ein gefährlicher Satz, denn er könnte missverstanden werden. Im Sinne einer allgemeinen Gleichmacherei und damit einer Verharmlosung von Schuld und Verantwortung. Nein, es gibt schon Unterschiede, aber dass wir alle in diesem Netz zappeln, daran können wir nichts ändern.

Wir alle hängen mit drin. Wir tun und lassen. Wir kaufen und verkaufen. Wir wissen, dass Brötchen und Weizenpreis zusammenhängen, wir wissen, dass wir für unsere Handys Coltan aus den kongoloesischen Minen brauchen und das dies unter unmenschlichen Bedingungen abgebaut wird. Und so weiter und so fort. Wir wissen das. Und doch wir können nicht anders. Erbsünde nannten das unsere Vorfahren, ein untergegangenes, vergessenes Wort und doch hochaktuell. Wir müssen essen trinken und so weiter und so fort. Und wir hängen somit mit im Netz. Auch wieder gefährlich, klingt so: Da kann man eh nix machen. Ja und nein. Ja, keiner kann schuldfrei leben und nein, man kann schon einiges machen.

Karfreitag 2013. An diesen schmerzhaften, unbequemen Wahrheiten zeigt sich wieder einmal, warum Jesus sterben musste. Weil die Menschen sich seinerzeit bei Jesu genauso verhalten haben – ganz und gar alltäglich, Die ganze Verstrickung, das Netz, in dem wir zappeln, das Netz aus Angst, Gier, Gewalt, Schuld und Überlebenswillen, all das gab es damals auch schon und die Hohepriester das Volk, Pilatus und die Jünger, die Soldaten – sie waren nicht besonders böse, sondern ganz und gar normal. Man könnte überspitzt sagen: »menschlich«. Und genau das kostete Jesus das Leben. Düstere Worte und Gedanken am Karfreitag. Wo bleibt das Evangelium, die gute Botschaft?

Ich könnte es mir und Ihnen nun leicht machen und gleich die nächsten drei Tage überspringen und mit der Osterbotschaft weitermachen. Aber dann würden wir Jesu Leiden nicht ernst nehmen. Er musste halt leiden und sterben und schwupps, ist er wieder lebendig, das Leid war nur eine Durchgangsstation zur Auferstehung. Nein, wir dürfen noch nicht nach vorne schauen. Heute ist und bleibt Karfreitag und die Härte der Wahrheit darf heute nicht angetastet werden.
Und doch gibt es ein Evangelium. Und damit komme ich zurück zum Anfang.

Das Evangelium an Karfreitag heißt: Wir dürfen drüber reden. Das ist die gute Botschaft. Nicht mehr, aber auch nicht weniger. Das Grauen, die Angst, das unmenschliche Leid braucht uns nicht die Kehle zuzuschnüren. Die unglaubliche und bedingungslose Liebe Gottes umhüllt uns auch hier und öffnet den Mund. Schwer zu glauben angesichts der Übermacht des Leidens. Und doch: Ich darf drüber reden. Über meine Schuld. Meine Verstrickung. Und so weiter und so fort. Symbolisch gesprochen: drei Tage lang. Drei Tage mit Jesus durch die Hölle gehen. Und dann wird es Licht.

Amen.